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25 janvier 2007

Die Verführung Europas

Populisten bedrohen die jungen Demokratien in den östlichen EU-Ländern. Was macht sie so attraktiv?

Weihnachten stand vor der Tür. Und so begab es sich, dass 46 Parlamentarier der Warschauer Koalition aus Nationalkonservativen, Rechtsklerikalen und Linkspopulisten sich im Dezember aufmachten, um dem Hohen Hause einen Antrag zu unterbreiten. Und dieser Antrag war der erste seiner Art und besagte, dass alle im Lande es schätzen würden, wenn Jesus Christus zum König von Polen gekrönt würde. Denn schon Papst Johannes Paul II. habe wissen lassen, dass von Polen die Kraft ausgehe, Europa aus dem Sumpf des Unglaubens und der Unmoral zu retten.

Wen diese wahre, hehre Weihnachtsgeschichte noch rührte, dem musste nur drei Wochen später der 7. Januar 2007 wie das Jüngste Gericht über Polens Christenheit erscheinen. Zwar hatten die regierenden Zwillinge Kaczyński die »moralische Revolution« ihrer 4. Republik in den Monaten zuvor bereits selbst gerichtet. Sie duldeten Vorbestrafte, Rassisten und Sexskandale in den Abgeordnetenbüros ihrer Koalition. Ministerpräsident Jarosław Kaczyńskis Staatssekretär wurde gefilmt, als er eine Abgeordnete zu bestechen versuchte. Staatspräsident Lech Kaczyński versprach, eine europaweite Debatte zugunsten der Todesstrafe anzuregen. Wie schon so oft in der Geschichte schien nur noch die Kirche geblieben zu sein als Trägerin der größten Nation Ostmitteleuropas mit heute 39 Millionen Menschen.

Doch dann stürzte unmittelbar über der Inthronisierungsmesse für den neu ernannten Warschauer Erzbischof Stanisław Wielgus selbst noch der Himmel ein. Der neue Kardinalprimas erklärte vor den höchsten Würdenträgern seinen Rücktritt. Er tat es nicht freiwillig; nur ein spätes Wort aus Rom konnte ihn fällen. Bis zu diesem Moment hatten der Bischof und die Kirchenmänner, die ihn stützten, geleugnet, in welchem Ausmaß Wielgus einst kommunistischen Sicherheitsdiensten als Spitzel diente.

Warum drohen Populismus, Nationalismus und Bereicherungskriminalität die frisch gesäte Demokratie in Ostmitteleuropa zu überwuchern? Wieso haben die Würgemale jahrzehntelanger Diktatur nicht den Ruf nach autoritären Lösungen für immer verstummen lassen? Und warum konnte eine Art geografischer Apartheid entstehen zwischen den glitzernden Metropolen mit ihrer atemberaubenden Dynamik und den verödeten Landstrichen, in denen sich Wähler und rassistische Rattenfänger gute Nacht sagen? Auf einen Satz gebracht, kann die Antwort lauten: Die demokratischen Politiker sind außerstande, mit marktwirtschaftlichen Lösungen gesellschaftliche Stabilität zu schaffen. Dafür gibt es vier Gründe:

Erstens: Das Vermögen ging, das Volk blieb. Wichtigster Glaubensartikel des Ostens war 1989 die Verheißung des europäischen Sozialstaats. Er hatte dem Sozialismus die Legitimation genommen. Doch im Moment der Wende, als unsere Nachbarn auf den versprochenen Bonus hofften, war die Alt-EU selbst in einen Transformationsprozess geraten. Der klassische demokratische Staat mit seiner Verantwortung für Infrastruktur und soziale Aufgaben musste unter dem Druck der Globalisierung zurückstecken.

So bekam Osteuropa unversehens zwei Anwälte zur Umstellung auf die liberale Marktwirtschaft. Die EU verlangte für die Beitrittsperspektive die Übernahme ihres rechtlichen Regelwerkes. Internationaler Währungsfonds und Weltbank, die den »Washingtoner Konsens« ersannen, waren hingegen nicht an einem geduldigen Aufbau von rechtlichen Institutionen und Wettbewerbsfähigkeit interessiert: Die Marktkräfte würden auch das schon richten. Allein das Tempo der Privatisierung zählte. Für Schutz und Chancengleichheit der Menschen gab es weder Zeit noch Mittel. Westliche Konzerne und postkommunistische Seilschaften rissen die gewinnträchtigsten Stücke aus der volkswirtschaftlichen Erbmasse. Die Bevölkerung dagegen musste den Gürtel enger schnallen. Die Maastricht-Kriterien untergraben ihre Zukunft: Gesundheits- und Bildungswesen können inzwischen nicht mehr auf europäischem Niveau versorgt werden. So fühlen sich viele Menschen in die EU getrieben wie in eine Einbahnstraße, in der sie für ihr eigenes Leben wenig finden.

So irrte der Westen in der Annahme, dass sich die politischen Kräfte alsbald in großen Parteienfamilien finden würden. Stattdessen schießen ständig neue politische Gruppierungen aus dem Boden – »Einwegparteien« und »Wegwerfbünde«, wie sie Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik nennt. »Wenigstens«, meint dazu Tomás Kafka mit schwejkscher Gelassenheit, »sind die Parteien nicht so glaubwürdig, dass die Wähler die Dominanz einer Partei länger auf sich einwirken lassen möchten.«

Drittens: Das Fiasko des Liberalismus. Bis zu ihrer Abwahl im vergangenen Sommer präsentierte sich die slowakische Regierung mit höchsten Wachstumsraten als neoliberales Leuchtfeuer Europas. Und Angela Merkel, damals noch im Wahlkampf, jubelte über die radikal gesenkte Einheitssteuer von 19 Prozent: »Ein Segen für uns, dass man jetzt mal gucken kann, wie sich eine solche Reform auswirkt.« Auch kritische Beobachter in Mittelosteuropa bestreiten nicht, dass sich der Liberalismus »als Technik der Abkehr vom Kommunismus bewährte«, wie es der polnische Politologe Jarosław Gowin formuliert hat. »Als er jedoch, gegen die Neonationalisten gerichtet, auf die Schaffung einer öffentlichen Gesellschaft hätte zielen müssen, die es in dieser Region noch nie gab, erwies er sich als schwach.« Und als Theorie des Übergangs zum Kapitalismus habe er ein Fiasko erlebt.

Der bedeutende polnische Ideenhistoriker Jerzy Szacki betrachtete den Jubel über Osteuropas Neoliberale von Anfang an skeptisch: »Mag im Westen auch eine Synthese zwischen Neoliberalismus und Konservatismus möglich sein – so ist sie in Polen und Ungarn nicht erreichbar, weil der Konservatismus hier mit einer vorkapitalistischen Mentalität belastet ist.« Folgerichtig prophezeite der Warschauer Professor schon zu Beginn der neunziger Jahre: »Vor allem in Ungarn und Polen geht der Trend zu einer möglichst vollkommenen Restauration der Wertewelt, die vor dem Beginn des realen Sozialismus existiert hatte.«

Nicht nur für Polen gilt: Die Nation war und ist die Schutzheilige des osteuropäischen Freiheitsstrebens. Der bankrotte Realsozialismus entließ die Völker 1989 als späte Kinder von 1848 und 1918. Sie werden ihre gerade errungene Souveränität also noch lange hegen und verteidigen gegenüber den aus ihrer Sicht postsouveränen oder von Deutschland und Frankreich »beherrschten« Alteuropäern. Wohingegen sie in den USA einen beispielhaften souveränen Nationalstaat bewundern. Dieser Grundwertekanon begrenzt das Vertrauen vor allem der konservativen Politiker in die Demokratie. Auch das ist ein altes Muster. »Die Angst, Freiheit und Demokratie könnten die Sache der Nation bedrohen«, so der aus Prag stammende Pariser Historiker und Politikforscher Jacques Rupnik, »war schon in der Zwischenkriegszeit ein Haupthindernis für die Einführung demokratischer Verhältnisse in der Region.«

Welche Schlussfolgerungen erlauben diese Befunde? »Unter anderen Bedingungen könnte all das sehr böse ausgehen«, meint Jiří Pehe, »so wie vor dem Zweiten Weltkrieg, als die aufkommenden Demokratien in autoritäre Systeme abrutschten. Doch dank der EU-Mitgliedschaft ist diese Gefahr im Grunde doch gebannt. Die Jungen sind schon Europäer, vielleicht noch nicht allesamt Demokraten, aber Europa ist ihre Sprachenschule, und sie sind auf dem ganzen Kontinent zu Hause. Nach den bitteren Erfahrungen von 45 Jahren Despotismus erleben wir trotz allem einen glücklichen Moment der europäischen Geschichte.«

Gestützt wird der Optimismus des früheren Havel-Beraters von Umfragen in Prag, aber auch in den benachbarten Hauptstädten. Das Vertrauen der tschechischen Bürger in die europäischen Institutionen ist weitaus größer als in die heimischen. Wer in Böhmen und Mähren Gerechtigkeit anstrebt, wendet sich lieber an die europäischen Instanzen. Ein solches Vertrauen macht die Verantwortung der von Krisen gestressten Altdemokratien und ihrer Politiker nicht leichter. Aber sage niemand, dass Europa keine Perspektiven mehr habe.

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